Text: Elissa Webster, World Vision International
Einen Alltag ohne Mobiltelefon können sich die meisten von uns gar nicht mehr vorstellen –und in unserer heutigen, sozial entfremdeten und häufig isolierenden Welt sind sie sogar noch mehr zu einer Lebensader geworden. Wir verlassen kaum noch das Haus oder gehen auch nur in den nächsten Raum, ohne es dabei zu haben!
Selbst in den ärmsten Ecken der Welt haben die meisten Menschen ein Mobiltelefon – 83 Prozent der Erwachsenen in Entwicklungsländern besassen 2019 ein Mobiltelefon, im Vergleich zu 94 Prozent in Industrieländern (Pew Research, 2019). Insgesamt gibt es unter den 8 Milliarden Menschen auf der Welt mehr als 5,44 Milliarden Handynutzer, von denen fast alle Smartphones mit Internetanschluss nutzen (Global Digital Report 2023). Gehen Sie einen beliebigen Feldweg entlang, egal wo auf der Welt; schauen Sie in jedes noch so bescheidene Haus, und die Chancen stehen gut, dass Sie jemanden mit einem Telefon finden - einschliesslich der Kinder, die in jenen Ländern aufwachsen, wo World Vision arbeitet.
Vielen Paten und Spendern kommt dies seltsam vor. Warum sollte eine Familie, die um Nahrung, Schulgeld, Strom oder vielleicht Kleidung für ihre Kinder kämpft, ein Mobiltelefon haben?
Während der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig Mobiltelefone für eine in Armut lebende Familie sein können. Überall auf der Welt ermöglichen Mobiltelefone es den Menschen, Informationen zu finden, Hilfe zu holen, ein offenes Ohr zu haben, Waren oder Dienstleistungen zu bestellen, mit Angehörigen in Kontakt zu bleiben, die wegen eines Lockdowns weit weg sind, oder ihr Geschäft am Laufen zu halten. In den Entwicklungsländern, in denen viele Lockdowns innerhalb von Stunden erfolgten und die Regierungen keine finanzielle Unterstützung leisten konnten, waren Mobiltelefone oft die einzige Möglichkeit, um Geld in der Familie zu verschicken, Schulmaterial für Kinder, die zu Hause lernen, zu organisieren, und Zugang zu wichtigen Diensten und Organisationen, die helfen können – wie z.B. die Mitarbeitenden und Freiwilligen von World Vision - zu erhalten. Mit Hilfe von Mobiltelefonen haben wir mit Eltern oder Betreuern über Covid-19-Prävention und Kinderschutz gesprochen, mit Kindern per Videochat Kontakt aufgenommen, um ihnen beim Lernen zu helfen oder ihre Sicherheit zu gewährleisten, Gesundheitshelfer in den Gemeinden darin geschult, Fälle zu erkennen und zu behandeln, dringend benötigte Bargeldgutscheine an Familien weitergegeben, die ihren täglichen Bedarf nicht decken konnten, Kindern und Eltern psychosoziale Beratung und Unterstützung geboten und vieles mehr.
Aber auch schon vor Covid-19 war für viele Familien, die in Armut leben, ein Telefon ein wichtiges Gerät. Lesen Sie hier, warum:
Es steht ausser Frage, dass der Kauf eines Smartphones für die meisten von uns eine kostspielige Angelegenheit sein kann, vor allem, wenn es mit vielen Apps und sprachgesteuerten Funktionen ausgestattet ist, um Sie bis zum Erscheinen des nächsten Modells bei Laune zu halten. Aber in Ländern des Globalen Südens sind Mobiltelefone oft einfache Modelle und viel billiger als ein Festnetzanschluss, für den man auch eine Infrastruktur braucht. In Mexiko können Sie ein Mobiltelefon mit einem Tarif für nur 3 US-Dollar pro Monat kaufen, während ein einfaches Mobiltelefon in Armenien zwischen 7 und 10 US-Dollar, in Nicaragua 20 US-Dollar, in Myanmar 30 US-Dollar und in Westafrika 15 bis 60 US-Dollar kostet. Gebrauchte Telefone sind sogar noch billiger, und viele Arbeitgeber verschenken ihre alten Telefone an ihre Mitarbeiter. Auch die Gesprächskosten sind erschwinglich: In der Mongolei bieten Telekommunikationsunternehmen kostenlose Telefongespräche zwischen Eltern und Kindern unter 12 Jahren an, und in Honduras kosten 100 Minuten Gesprächszeit nur 1 USD.
«Afrika ist bekanntlich der Kontinent, auf dem es derzeit mehr Telefone pro Person gibt als auf den meisten anderen Kontinenten. Sehr paradox, nicht wahr? Doch die meisten Telefone sind sehr preiswert und kommen aus China, und selbst in den abgelegenen Dörfern hat fast jeder oder jede Familie ein Telefon», sagt Henri Coly von World Vision Westafrika.
World Vision hilft Kleinbäuerinnen wie Marguerite in Ruanda, über ein Mobiltelefon Zugang zu landwirtschaftlichen Dienstleistungen zu erhalten, um das Einkommen ihrer Familie zu steigern.
Wie alle Eltern machen sich auch Eltern in Entwicklungsländern Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder, wenn sie nicht bei ihnen sind. Manche haben einen weiten Schulweg oder verbringen lange Zeit allein zu Hause, während ihre Eltern arbeiten. Der Zugang zu einem Telefon ermöglicht es den Kindern, bei Bedarf Hilfe zu rufen, und gibt den Eltern die Gewissheit, dass es ihrem Kind gut geht – etwas, auf das alle Eltern ein Recht haben, egal ob sie reich oder arm sind. In der Mongolei wurde sogar eine Kinder-Helpline eingerichtet, über die Kinder Probleme oder Gewalt melden können.
«Ein Telefon ist kein Luxusgut, sondern eher eine Notwendigkeit», sagt Madlen Muradyan von World Vision Armenien. «Eltern geben ihren Kindern aus Sicherheitsgründen einfache Telefone mit, damit das Kind jederzeit erreichbar ist und mitteilen kann, dass mit ihm alles in Ordnung ist, vor allem ab dem Alter, in dem ein Kind anfängt, zur Schule zu gehen und allein nach Hause kommt.»
Mobiltelefone sind für Kinder zu einem wichtigen Mittel geworden, um mit ihrer Familie und ihren Freunden in Kontakt zu bleiben.
An Orten, an denen die Beschäftigungsmöglichkeiten begrenzt sind, lebt und arbeitet in vielen Familien mindestens ein Mitglied ausserhalb des Landes, sodass Telefonate die einzige Möglichkeit sind, in Kontakt zu bleiben. In Honduras und vielen anderen Ländern bieten Telekommunikationsunternehmen billige Auslandsgespräche in Länder wie die USA und Mexiko an, die speziell für Arbeitnehmer im Ausland bestimmt sind. In Ländern wie China, Myanmar und der Mongolei, wo es üblich ist, dass die Kinder während der Schulzeit bei Verwandten oder in Internaten wohnen, sind die Eltern auf Telefone angewiesen, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben.
«In den ländlichen Gebieten Chinas haben nicht alle Haushalte einen Festnetzanschluss, aber fast jeder Haushalt hat ein Mobiltelefon, weil das Mobilfunknetz fast überall zugänglich ist», sagt Mabel Tsang von World Vision China. «Sehr viele Eltern arbeiten ausserhalb der Stadt. Sie nutzen das Telefon, um mit den zu Hause gebliebenen Kindern in Kontakt zu bleiben.»
Naranmandakh Badarch von World Vision Mongolei fügt hinzu: «Es ist auch üblich, dass Kinder, die weit weg von zu Hause oder während der Schulzeit in einem Internat leben, ein Telefon haben. Die Mongolei grenzt an China, die meisten Produkte und Gegenstände stammen aus China und sind sehr billig.»
Viele Kinder in Entwicklungsländern, wie z. B. Mila in Indonesien, verlassen sich auf Mobiltelefon-Internetverbindungen, um ihre Hausaufgaben zu machen, da nur wenige Familien Laptops oder Computer besitzen.
Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist das Internet ein immer wichtigeres Lernmedium für Schüler auf der ganzen Welt, auch in den Entwicklungsländern. Beispielsweise ist es in der Dominikanischen Republik und El Salvador üblich, dass Kinder, die zu Hause keinen Zugang zu einem Computer haben, günstige Internetpakete auf dem Mobiltelefon ihrer Eltern nutzen, um ihre Hausaufgaben zu machen. World Vision hat erkannt, dass dies ein wachsender Trend ist und bietet in den meisten Ländern, in denen wir tätig sind, spezielle Schulungen für Kinder und Eltern zum Thema Internetsicherheit an.
«In den meisten Gemeinden in der Dominikanischen Republik, in denen wir arbeiten, gehören die Telefone der Mutter oder dem Vater des Kindes, aber das Kind nutzt sie für die Hausaufgaben», sagt Sharon Rodriguez von World Vision Lateinamerika. «Da die Kinder in ihren Gemeinden keinen Zugang zu Computern mit Internet haben, um ihre Hausaufgaben zu machen, kaufen ihre Eltern vielleicht unbegrenzte Internetpakete, die nur 1 USD für einen ganzen Tag kosten.»
Die siebenjährige Nubia in Bolivien macht Hausaufgaben, die ihre Lehrerin per WhatsApp an ihre Mutter Rosa geschickt hat - das ist die einzige Möglichkeit, wie sie während des Covid-19-Lockdowns Schularbeiten erledigen konnte.
Kinder, die heute aufwachsen, merken schnell, dass fast jeder ein Mobiltelefon hat. Für Jugendliche, die ständig mit dem sozialen Stigma zu kämpfen haben, dass sie nicht immer die richtige Uniform oder die benötigten Schulbücher haben, dass es ihnen peinlich ist, wenn Gleichaltrige wissen, wo sie wohnen oder was ihre Eltern beruflich machen, kann die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind, einen Freund anzurufen oder sich in den sozialen Medien zu vernetzen, ihre soziale Isolation noch verschärfen. Eltern, die sehen, dass ihre Kinder mit dieser Herausforderung konfrontiert sind, tun nicht nur ihr Bestes, um ihre Kinder mit Kleidung oder Schuhen auszustatten, sondern stellen ihnen möglichst auch ein Mobiltelefon zur Verfügung.
«In unserem Kontext versuchen die meisten Menschen, einschliesslich der Kinder, sich so zu verhalten, dass ihre Armut nicht so offensichtlich ist... Handys sind Gegenstände, die ihnen eine Art Gleichberechtigung mit Gleichaltrigen ermöglichen», sagt Kate Kobaidze von World Vision Mittlerer Osten und Europa. «Die meisten Handys sind gebraucht, sind billigere Marken und haben einen niedrigeren Preis, aber sie haben die wichtigsten Funktionen, die die meisten Menschen nutzen – Internetzugang, Kamera und einen Touchscreen.»
Sharon Rodriguez fügt hinzu: «Die allgemeine Denkweise von Menschen in Armut und/oder prekären Verhältnissen in Brasilien geht so: Wenn ein Handy oder Smartphone ein hervorragendes Gerät für wohlhabende Menschen ist, das ihr Leben einfacher, schneller, sicherer (in gewisser Weise) und besser macht, dann sollte es auch für mich und meine Lieben verfügbar sein.»
Mobiltelefone erleichtern in Not- und Katastrophensituationen die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen. Zum Beispiel in Bangladesch. Lesen Sie dazu unseren Beitrag «Nothilfe via Handy» über die von World Vision entwickelte «Last Mile Mobile Solution LMMS» (Handy-Lösung für die letzte Meile). LMMS ist eine softwarebasierte Anwendung, die auf einem mobilen Gerät läuft und bei Katastropheneinsätzen für die Information der Betroffenen und die Verwaltung von Hilfsgütern wie Nahrungsmitteln, Bargeld, Medikamenten, Hygienesets und anderen Non-Food-Artikeln eingesetzt wird. Auch das Monitoring vereinfacht sich durch die Digitalisierung. Wir haben einen besseren Überblick, wer was wann erhalten hat, und können auf diese Art effizienter helfen.
Passend zu diesem Thema unser Beitrag «Wie eigentlich werden Handys in ärmeren Ländern überhaupt aufgeladen?»
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