Faith setzt sich aktiv gegen weibliche Genitalverstümmelung ein. Obwohl die Praxis als verboten gilt, wird sie noch immer praktiziert.
Text: Martin Muluka, World Vision & Tamara Fritzsche, World Vision Schweiz
Faith liebt es, in die Schule zu gehen und würde alles tun, um an die Universität gehen und Krankenpflege studieren zu können. Ihr Traum war auch in greifbarer Nähe, bis die Regierung im März 2020 die Schulen wegen der COVID-19-Pandemie schloss. Für Faith bedeutete dies nach Hause gehen zu müssen. «Ich hatte Angst, nach Hause zu gehen, weil eine meiner Freundinnen in den letzten Schulferien verheiratet und eine andere beschnitten wurde», sagt die 16-jährige Schülerin.
Die Schulferien, egal ob COVID-19-bedingt oder regulär, sind für Mädchen aus den Gemeinden, in denen «Female Genital Mutilation», kurz FGM, heute noch praktiziert wird, ein grosses Risiko. Faiths Familie lebt in West Pokto County, einer dieser Gemeinden, in denen Mädchen nach wie vor beschnitten werden. Nach Angaben von UNICEF gibt es in Kenia vier Millionen Mädchen und Frauen, die weibliche Genitalverstümmelung erlebt haben. In Kenia sind das rund 21 Prozent der Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren.
«FGM ist ein grosses Thema und das gibt dir das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, wenn du nicht beschnitten wurdest. Manchmal machen sie sich sogar über dich lustig und nennen dich ein Kind», erklärt Faith. Sie fühlte sich oft allein und hatte Angst, über das Thema zu sprechen. Als die Schulen geschlossen wurden, blieb sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer.
Ein Stück Kultur
In vielen Kulturen symbolisiert FGM den Übergang vom Mädchen- zum Frauendasein. Es ist eine geschätzte traditionelle Praxis, die an Mädchen im Alter von 10 Jahren durchgeführt wird, aber verheerende physische und psychische Auswirkungen auf die Beschnittenen hat.
Kenia erliess 2011 das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung. Im Jahr 2019 verabschiedete das Land ein überarbeitetes Gesetz zur Ausrottung von FGM im Einklang mit den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (Ziel 5.3 der Sustainable Development Goals), das die Abschaffung der Praxis bis 2030 vorsieht.
Faiths Mutter (rechts) ermutigte ihre Tochter, am Sensibilisierungsprogramm von World Vision teilzunehmen.
Im Rahmen des «Alternative Rights of Passage»-Programms (ARP), einem Mentoring-Projekts, stösst World Vision in Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen, das Umdenken an. Den Mädchen und Frauen wir gezeigt, wie sie auch ohne schädliche Praktiken wie FGM «zur Frau werden können». Sie erfahren, welche verheerenden physischen und psychischen Auswirkungen FGM auf die Beschnittenen hat, was reproduktive Gesundheit ist und was ihre Rechte als Mädchen, Frauen und Kinder sind. Sie werden in diesem Mentoring-Projekt in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, erwerben Lebenskompetenzen für ihre berufliche Zukunft und erfahren, wie wichtig Bildung ist. Auch Jungen und Männer sind im Programm herzlich willkommen. Das ist wichtig, damit ein gesamtgesellschaftliches Umdenken geschehen kann.
Multiplikatorinnen gegen FGM
Faith erfuhr durch ihre Mutter von dem Mentoring-Programm. «Meine Mutter behandelt mich gut. Sie ermutigt mich immer, in der Schule hart zu arbeiten. Eines Tages im Dezember erzählte sie mir, dass World Vision an der Masol Girls High School ein FGM-Sensibilisierungsprogramm für Mädchen durchführen werde. Ich hatte Angst, alleine hinzugehen, weil ich dachte, ich würde Leute treffen, die mich auslachen würden. Meine Mutter sprach mit mir und versprach mir, mich am ersten Tag zu begleiten. Mir gefiel, was World Vision uns lehrte, weil sie genau verstanden, was ich durchmachte», erinnert sich Faith. Sie fügt hinzu: «Ich war überrascht, dass so viele Mädchen und Jungen teilnahmen. Am Anfang waren wir nur wenige, aber es kamen immer mehr dazu.»
Während dieser ARP-Trainingsworkshops ermutigen auch religiösen Führer die Teilnehmenden, gegen FGM vorzugehen und zu Fürsprecherinnen und Verfechtern der Kinderrechte zu werden.
Faiths Mutter meldete sich nach dem ersten Tag des Trainings freiwillig, um eine aktive Rolle im Kampf gegen FGM in ihrer Gemeinde einzunehmen. Sie begann, mit anderen Eltern zu sprechen, damit diese ihre Kinder in die Schule bringen anstatt sie zu verheiraten. Auch Faiths kleiner Bruder und ihre Schwester nahmen am Programm teil. Heute schämt sich Faith nicht mehr dafür, dass sie nicht beschnitten ist, sondern setzt sich aktiv für ihre Rechte ein: «In der Schule teile ich das, was ich gelernt habe, mit den anderen Mädchen.»
An den Wochenenden besucht Faith zusammen mit ihrer Mutter Mädchen und Frauen in Nachbardörfern, die Angst haben, sich öffentlich gegen FGM aufzulehnen. Sie machen ihnen Mut und sind so wertvolle Multiplikatorinnen im Kampf gegen eine Praktik, die schon längst der Vergangenheit angehören sollte.