Tatiana bringt mitten im Krieg ihr zweites Kind drei Monate zu früh zur Welt.
Text: Laurentia Jora, Kommunikationskoordinatorin UCR Moldawien & Rumänien
Noch ahnt sie nicht, dass sie an diesem eiskalten Dezembermorgen ihr zweites Kind, Eldar, zur Welt bringen würde. Eigentlich hat sie mit einem Geburtstermin in drei Monaten gerechnet.
Einige Stunden später wacht Tatiana völlig benommen auf. Das Piepen der Maschinen in einem grellen, weissen Krankenhauszimmer lässt sie aufschrecken und bringt verblasste Erinnerungen zurück: starke Schmerzen, die Fahrt ins Krankenhaus, Ärzte und Dunkelheit, völlige Dunkelheit.
Ein paar Meter weiter, im nächsten Raum, stehen fünf Brutkästen in zwei Reihen, in denen fünf Neugeborene liegen, jedes gerade einmal so gross wie eine Handfläche. Der kleine Eldar wiegt kaum mehr als ein Kilogramm. «Er kam drei Monate früher als erwartet zur Welt», erklärt Tatiana.
«Die Ärzte sagten mir, dass mein Körper den Stress nicht verkraftet hatte», fährt sie fort. Als sie ihr zweites Kind zur Welt bringt, ist sie während eines Jahres bereits zweimal innerhalb der Ukraine vertrieben worden. Zuerst ist sie von der Stadt Sloviansk in der Oblast Donezk mit dem Zug rund 24 Stunden in den Westen des Landes nach Czernowitz gereist. Nach drei Monaten ist sie erneut umgesiedelt, diesmal nach Sumy.
«Mein gesamtes neurologisches System versagte», erinnert sie sich.
Auf der Neugeborenenstation des Regionalkrankenhauses Sumy ist Tatiana nicht die einzige Mutter, die eine Frühgeburt hatte. «Wir waren eine grosse Gruppe von Frauen», sagt sie.
Der kleine Eldar liegt, wie Dutzende andere Frühgeborene, drei Monate lang in einem kleinen Bettchen, das mit Temperatur-, Sauerstoff-, Licht- und Feuchtigkeitskontrollen ausgestattet war. Drei Monate lang schrillen die Alarme in den Strassen von Sumy und hallen in den Krankenhausfluren wider. Explosionen in der Nähe erschüttern die Fenster der Zimmer, und Knallgeräusche durchbrechen die Stille in der Station.
Die Neugeborenenstation befindet sich direkt neben dem Militärkrankenhaus der Stadt. «Während des Luftalarms verliessen wir nicht ein einziges Mal den Raum, in dem unsere Säuglinge untergebracht waren», erinnert sich Tatiana. «Wir haben nur gebetet, dass wir nicht zur Zielscheibe werden», fährt sie fort, wobei ihr still Tränen über die blassen Wangen rinnen.
Da die Brutkästen der Neugeborenen an Generatoren angeschlossen sind und es in der Stadt oftmals keinen Strom gibt, können die Babys und ihre Mütter bei Luftalarm nicht in den Bunker gebracht werden. «Es war schwierig, die Betten jedes Mal zu bewegen», erklärt Tatiana.
Schon im Jahr 2014 hatten Tatiana und ihre Familie einen Krieg erlebt. 2014 waren sie in Sloviansk geblieben, und sie war sich sicher, dass sie auch dieses Mal nicht weggehen würde. Sie wollte ihr Kind dort zur Welt bringen, in der Nähe ihrer Familie. Aber im Oktober 2023 muss sie erneut flüchten – zum dritten Mal.
«Ich ging mit meinen beiden Kindern spazieren, als ich drei bis vier Explosionen in der Nähe unseres Hauses hörte, und am nächsten Tag noch eine, und noch eine, und noch eine», erinnert sie sich. Es wurde zur Routine, durch Luftschutzsirenen aufzuwachen, die sich manchmal sechs bis acht Mal am Tag wiederholten.
«Das Schwierigste für mich als Mutter war, vor meinen Kindern so zu tun, als ob alles in Ordnung und wir in Sicherheit wären», erklärt Tatiana.
An einem warmen Oktobermorgen schnappt sie sich ihre beiden Kinder, packt einen Rucksack, ein paar Windeln, drei Flaschen Wasser und ein paar selbst gemachte Sandwiches und machte sich auf den Weg nach Westen. «Wir sind 24 Stunden lang mit dem Zug von Sumy nach Czernowitz gereist», sagt sie. «Du bewertest alles neu. Man nimmt materielle Dinge nicht mehr wichtig und muss einfach loslassen», fährt sie fort.
Jetzt lebt die Mutter mit ihrer Tochter Simona, 10, und ihrem Sohn Eldar, der im Dezember 2023 seinen ersten Geburtstag gefeiert hat, in Czernowitz. Sie wohnen in einem Zimmer, das sie sich mit drei anderen vertriebenen Familien teilen.
Tatiana erhält Unterstützung durch das World Vision-Bargeldprogramm.
Tatiana hat sich vor kurzem für das Bargeldprogramm von World Vision angemeldet, das von der Aktion Deutschland Hilft (ADH) unterstützt wird. «In der Ukraine hat der Konflikt viele Menschen vertrieben. Die Bedürfnisse der Betroffenen sind unterschiedlich, daher ist eine solche Hilfe besonders wertvoll», erklärt Anzhela Vanzuriak, World Vision-Beauftragte für Bargeld- und Gutscheinprogramme.
«Ein auf die spezifischen Bedürfnisse zugeschnittenes Bargeldprogramm ermöglicht es den Empfängern, ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, zu denen Nahrungsmittel, Unterkünfte, Medikamente oder andere lebensnotwendige Dinge gehören können, die je nach der Situation des Einzelnen sehr unterschiedlich sind», fügt sie hinzu.
Tatiana erklärt, dass die Reha-Kosten für ihren fast einjährigen Sohn sehr teuer sind. Die Preise steigen, aber die Gehälter sind viel niedriger. «Mit dem Verdienst meines Mannes, den Sozialleistungen und der humanitären Hilfe können wir uns zu viert durchschlagen», erklärt sie.
Die Mutter fährt fort: «Eine Bargeldhilfe bedeutet für unsere Familie sehr viel. Ich kann damit Winterkleidung, Lebensmittel und Windeln für den Kleinen kaufen.»
Tatiana, die drei Vertreibungen bewältigt, eine Frühgeburt erlebt, eine vom Krieg gezeichnete Mutterschaft durchgemacht hat und von ihrem Mann getrennt worden ist, der in Sumy bleibt, strahlt weiterhin Liebe und Hoffnung aus. «Mitten im Krieg habe ich mein Kind gewiegt und ihm Schlaflieder gesungen.» «Mutter sein hat mich am Leben gehalten», sagt sie.
Bis heute hat das World Vision-Ukraine Nothilfeprogramm mehr als 523’000 Frauen in der Ukraine, Rumänien, Moldawien und Georgien erreicht und sie mit Projekten für Grundbedürfnisse, Bargeld, Lebensunterhalt, Schutz und psychische Gesundheit unterstützt.
Helfen auch Sie mit, ukrainische Frauen wie Tatiana zu unterstützen. Spenden Sie für unser Ukraine Not- und Katastrophenhilfeprogramm.