Eine letzte Erinnerung: Die 9-jährige Ashmitha mit dem Foto ihres Vaters. Einer der Tausenden in Indien, die dem Corona-Virus zum Opfer fielen.
Text: World Vision
Seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020 sind in Indien alle Schulen für den Präsenzunterricht geschlossen, und die Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die 9-jährige Ashmitha war froh, diese Zeit zu Hause mit ihrer Familie zu verbringen, auch wenn sie im Haus bleiben musste, bis ihr Vater Murugan von seiner Arbeit als Tagelöhner in einer Weihrauchfabrik zurückkehrte und sie gemeinsam spazieren gingen. «Ich wartete immer sehnsüchtig darauf, dass es Abend wurde, damit ich mit meinem Vater einen Spaziergang machen konnte. An manchen Tagen kaufte er mir Snacks und Spielzeug», erinnert sich Ashmitha.
Erste Symptome
Ashmithas Leben veränderte sich, als ihr Vater plötzlich nicht mehr die Kraft dazu hatte, Spaziergänge mit seiner Tochter zu unternehmen. «Er begann stark zu husten, bekam Fieber und war oft müde», erzählt Ashmithas Mutter Amudhavalli. Da Murugan die einzige verdienende Person in der Familie war, verschwieg er seine gesundheitlichen Probleme. Er wollte seine Familie nicht beunruhigen. Doch bald schon war es ihm nicht mehr möglich, arbeiten zu gehen. Er blieb zuhause und versuchte, sich selbst mit Medikamenten zu behandeln, und hoffte, schnell wieder auf den Beinen zu sein. Doch sein Zustand verschlechterte sich zunehmend und so beschloss seine Familie, ihn in ein Spital zu bringen. Dort erhielt die Familie die schockierende Nachricht, Murugans Sauerstoffwerte und sein Puls seien beängstigend tief.
Überfüllte Spitäler
Das Spital, das die Familie aufgesucht hatte, war jedoch bereits so überfüllt und hatte zu wenig Sauerstoff, dass die Ärzte Amudhavalli rieten, ihren Ehemann in ein anderes Krankenhaus zu bringen, wo er sofort behandelt werden könnte. Doch auch die anderen umliegenden Krankenhäuser waren bereits mit COVID-19-Patienten überfüllt, und neue Patienten konnten nur aufgenommen werden, wenn ein Patient starb oder entlassen wurde.
Murugans Familie versuchte es in zehn verschiedenen Krankenhäusern, konnte aber kein einziges freies Bett finden. Schliesslich fanden sie nach langer Suche ein Bett in einem staatlichen Krankenhaus in der Stadt. Da sie kein Geld zur Hand hatten, musste sich Amudhavalli 40'000 Rupien (ca. CHF 500) leihen, damit das Krankenhaus Murugan aufnahm. Die Familie wachte an dem Tag hoffnungsvoll an Murugans Bett, bevor sie nach Hause zurückkehrte. Bange Stunden standen bevor. Murugan lag bereits zwei Tage im Spital, als die Familie einen Anruf erhielt. Am Telefon war das Krankenhaus, Murugan war gestorben. Die Familie hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich von ihrem Sohn, Ehemann und Vater zu verabschieden, da die Regierung vorschrieb, alle am Virus Verstorbenen direkt einzuäschern.
Ein Leben ohne Vater
Ashmitha, erst neun Jahre jung, kann sich ein Leben ohne ihren Vater nicht vorstellen. Sein süsser Duft, der von seiner Arbeit in der Weihrauchfabrik herrührte, erfüllte noch tagelang das Zuhause der Familie. Ashmitha klammert sich an den letzten Rat ihres Vaters, während sie versucht, weiterzumachen: «Sei vorsichtig und bleib zuhause.» Eines Tages möchte Ashmitha Ärztin werden, um Kranke zu heilen. Kranke, wie ihren Vater.
Gemeinsam gegen die Pandemie
Während der ersten Welle von COVID-19 versorgte World Vision Familien in Ashmithas Gemeinde und in ganz Bangalore mit Lebensmitteln, Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmitteln. Jetzt hat die zweite COVID-19-Welle Indien fest im Griff. Sowohl die Infektionszahlen als auch die tragischen Todesfälle erreichen fast täglich neue Höchststände. Die Pandemie trifft auf ein ohnehin völlig überlastetes Gesundheitssystem. Den Krankenhäusern im ganzen Land gehen die Betten, die Sauerstoffvorräte und die Beatmungsgeräte aus. Ausserdem gibt es einen Mangel an dringend benötigtem Impfstoff.
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